Gründungsgeschichte

Ein Netzwerk für Europa

Kleine Geschichte des Bundesnetzwerks Europaschule samt einem Ausblick auf neue Aufgaben

Vorgeschichte

In den 90er Jahren bildeten sich in verschiedenen Bundesländern Initiativen heraus, um die Europäischen Dimensionen des Lernens, wie sie von der Kultusministerkonferenz zuvor beschrieben worden waren, in einem eigenen Schultyp zu fassen. Explizit europäische Schulen sollten Schülerinnen  und Schülern dabei helfen, sich in der Welt von heute und morgen zu bewähren, sprachlich möglichst gut vorbereitet und neugierig geworden auf Menschen, Länder und Städte. Einige Bundesländer etablierten zudem Netzwerke zur Beförderung der Arbeit untereinander.

Rasch stellte sich in der Arbeit der Schulen und in den Verwaltungen das Bedürfnis heraus, über die Ländergrenzen hinweg, unter den Europaschulen zusammenzukommen, um Entwicklungsideen auszutauschen und auftretende Probleme zu besprechen. Dem entsprachen mehrere Konferenzen, zu denen Schulen und deren Ministerien z.B. in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt einluden. Um dieser Arbeit die nötige Kontinuität zu verleihen, fand sich in Halle 2002 eine Initiative zusammen, die zur Gründung des Bundesnetzwerkes e.V. 2004 führte.

Gründung

Bei der Gründung in Berlin wurde es in diesem Sinne als Hauptziel angesehen die Vertreterinnen und Vertreter der Europaschulen über ihre Bezüge im eigenen Bundesland hinaus miteinander zu vernetzen, zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie als europäischer Motor im deutschen Schulsystem wirksam werden. „Das Bundesnetzwerk“, so hieß es unter den Gründungsmüttern und -vätern, „berät und unterstützt jene, die Europaschule ‘machen', indem es sie in Verbindung bringt“. Denn überall in der Republik sähen Europaschulen bekanntlich ein bisschen anders aus. Nicht überall aber bildeten sie einen festen Verbund und  allzu oft arbeite man hier an Lösungen, die da schon gefunden worden seien. Man wisse nur nichts davon. Außerdem sollten Kontakte zur "Europäischen Bewegung" hergestellt und gehalten werden.
Mit solchen guten Ideen, aber ganz ohne Finanzierung, gründeten ein paar Optimistinnen und Optimisten den neuen Zusammenschluss. Er sollte schnell eine eigene Dynamik entwickeln und Grenzen überwinden, die individueller Tätigkeit nun einmal gesetzt sind. Jedoch sollte er kein Transmissionsriemen werden, einzig dazu bestimmt, das umzusetzen, was andernorts hinter verschlossenen Türen beschlossen wurde. Struktur und Halt sollte der neue Verbund geben, aber weder entrückt noch erdrückend wirken.

Schließlich stand vor allem anderen die pädagogische Zweckbestimmung der schulischen Alltagsarbeit in den Europaschulen im Mittelpunkt der Arbeit, ein  umfassender Ansatz neuer interkultureller Praxis. In den Worten des damaligen Kultusministers von Sachsen-Anhalt, Jan-Hendrik Olbertz, der die Gründung des Netzwerkes stark förderte: "Europaschulen sind Zentren europäischer Begegnung, von Bildung und Erziehung. In allen Schulformen lassen sich didaktisch-methodische Ansätze finden, um europäische Themen in die Unterrichtsarbeit zu integrieren. Die Schülerinnen und Schüler identifizieren sich im hohen Maße mit dem besonderen Profil ihrer Schule, weil sie die Akteure z.B. in Austauschprojekten sind."

Zur ersten Vorsitzenden des Bundesnetzwerks Europaschule e.V. wurde Carola Lakotta-Just (Dessau) gewählt, die das Netzwerk bis 2014 leitete und bis heute als Ehrenvorsitzenden darin aktiv ist. Ihr folgte Christoph Becker (Bornheim), der bis heute den Vorsitz innehat.

Kongresse

Zum Zweck des Austauschs über Ländergrenzen hinweg veranstaltet das Netzwerk ab 2005 alle zwei Jahre einen großen Kongress mit europäischen Gästen: zuerst in Frankfurt/M., danach 2007 in Potsdam, 2009 in Bornheim, 2011 in Hamburg / Schleswig-Holstein, 2014 in Erfurt und 2016 in Berlin. Hunderte Europaschul-Verantwortliche trafen sich dabei, arbeiteten intensiv miteinander, lernten sich besser kennen und befruchteten auf solche Weise die Arbeit ihrer Schulen.

Kompetente Gäste kamen, um die Kongressarbeit zu befördern. Ein Kulturprogramm bereicherte die Veranstaltung. Zuweilen widmeten sich die Kongresse Rahmenthemen, wie z.B. "Lernen in Europaschulen - 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges" (Erfurt 1014 mit einem Impulsvortrag von Prof. Etienne François, Sorbonne Paris/TU Berlin).

Einige Tagungen endeten mit der Verabschiedung programmatischer Erklärungen an die Adresse der bildungspolitisch Verantwortlichen über die nächsten Schritte der „Europaschul-Bewegung“. So in Frankfurt am Main, Potsdam und Bornheim.

Den Rahmen gab jeweils eine Ausstellung ab, die anschließend an verschiedenen Orten in Ministerien, Landtagen und Landesvertretungen gezeigt wurde, um auf das Netzwerk der Europaschulen aufmerksam zu machen.

Europaschul-Kriterien

Überraschend rasch gelang es dem Bundesnetzwerk, in Sachen Europaschule zu einem akzeptierten Gesprächspartner für die bildungspolitisch Verantwortlichen zu werden.

Das zeigte sich, als neun Bundesländer (Berlin, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) daran gingen, gemeinsame Kriterien für die Vergabe des Titels „Europaschule“ zu entwickeln. Daran war auch dem Netzwerk gelegen, ging es doch einerseits darum, bei der Gründung von Europaschulen zu helfen, andrerseits zu verhindern, dass sich pädagogische Einrichtungen mit einem schönen Titel schmücken, ohne ihm gerecht zu werden.

Mit der Durchsetzung eines Kriterien-Kataloges für Europaschulen, erarbeitet in einer „länderoffenen Arbeitsgruppe“ der Kultusministerkonferenz (unter Mitwirkung des Netzwerkes), wurden Voraussetzungen geschaffen für die nachhaltige Etablierung dieses Schultyps. Festgelegt wurde, dass es nicht reicht, ein paar Partnerschulen mehr als üblich zu haben und ein bisschen mehr Sprachunterricht zu erteilen. Vielmehr gehören auch Faktoren wie die Projektarbeit und deren Evaluation zum Programm von Europaschulen, eigene Fortbildung und ein Budget. Entstanden ist mit dem Katalog eine Zusammenstellung notweniger Anforderungen an Gründung und Entwicklung von Europaschulen, die diesen Namen verdienen. Nützlich vor allem für neue Europaschulen, hinzu kommende Bundesländer oder internationale Schulen, die grenzüberschreitende Bildungsangebote machen möchten

Zusammenfassend sei gefragt:

Was sollen Europaschulen leisten?

Zu entwickeln sind nach Meinung des Bundesnetzwerks:

•    Möglichkeiten interkultureller Arbeit,
•    neue Formen methodischen Lernens,
•    Medienkompetenz für Heranwachsende,
•    Studien- und Berufsvorbereitung und -orientierung in einer globalisierten Welt ,
•    Eigenständigkeit und Selbstverantwortung von Schülerinnen und Schülern durch Projekte des interkulturellen Dialogs,
•    Zivilcourage und Toleranz,
•    Offenheit und Aufgeschlossenheit als europäische Schlüsselqualifikationen,
•    die Gültigkeit der Werte der europäischen Völker,
•    Sprachen als Voraussetzung interkulturellen Dialogs sowie die Schulentwicklung als gemeinsame Arbeit der Schulgemeinde.

Europaschulpreis

„Unserer Hoffnungen gründen auf eine neue Generation junger Europäer“, steht auf dem vom Mannheimer Künstler Rainer Negrelli entworfenen und alle zwei Jahre vergeben Preis der deutschen Europaschulen, der 2012 zum ersten Mal verliehen wurde. Mit ihm verbindet sich die Absicht, in die Öffentlichkeit hin zu wirken, indem das Netzwerk (unterstützt von der Friedrich-Stiftung) auf die Leistungen verdienter Europäer aufmerksam macht.

Erster Preisträger war der damalige Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität und frühere Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz, der als "Geburtshelfer" des Bundesnetzwerks fungierte und in der Konferenz der Kultusminister viel für die Durchsetzung der Europaschul-Kriterien getan hat.

Preisträger 2012 war der langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ("Europa ist unsere Zukunft. Sonst haben wir keine."). Er erhielt den Preis für - wie es in der Laudatio hieß - "zukunftsweisende Orientierungen für ein vereintes junges Europa, in dem es sich friedlich miteinander leben lässt".  

Dem Netzwerk bei verschiedenen Gelegenheiten geholfen hat Prof. Dr. Gesine Schwan, die 2014 mit dem Preis ausgezeichnet wurde für ihr völkerverbindendes Engagement zwischen Polen und Deutschland, z.B. zwischen den Universitäten Frankfurt /Oder und Breslau, als Polen-Beauftragte der Bundesregierung und gern gesehener Gast auf mehreren unserer Tagungen.

2016 wurden Ehrenpreise des „Bundesnetzwerks Europaschule“ an eine Reihe von praktischen "Wegbereitern der Europaschule" aus Schulen und Ministerien mehrerer Bundesländer überreicht. Sie alle hatten sich im schulischen Alltag und überdies bildungspolitisch "in besonderer Weise um die Gründung und Entwicklung von Europaschulen verdient gemacht" und das Netzwerk gefördert, wie in der Verleihungsurkunde vermerkt wurde.

Ausblick

Bei der Jubiläumstagung des Bundesnetzwerks Europaschule 2015 in Dessau wurde festgestellt, die Europaschulen hätten in den letzten Jahren alles in allem einen erfreulichen Aufschwung erlebt. Europa werde sich sobald sicher nicht überleben. Davon ist nichts zurückzunehmen. Es gilt mehr denn je. Und doch muss mittlerweile resümiert werden, dass Europa in den Jahren danach unerwartet stürmische Zeiten durchlebte und durchlebt. Bei der Netzwerk-Preisverleihung 2016 wurden zum ersten Mal Ängste um die Zukunft Europas und der Europaschulen artikuliert - nicht wegen der aktuellen Flüchtlingsproblematik, sondern vor allem angesichts des Aufschwungs anti-europäischer Populisten und weil die nicht zu leugnende EU-Glaubwürdigkeitskrise und die Unfähigkeit, in wichtigen Problemfeldern (unter anderem  bei der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit) Lösungen zu finden, auch die Europaschulen treffe.

Tatsächlich braucht Europa neuen Schwung. Aber an der Aufgabe, in Europaschulen der zunehmenden Internationalisierung des Lebens in unserer Gesellschaft, Rechnung zu tragen, hat sich nichts geändert. Wohl aber ist der Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen mehr Raum zu geben, um sie mit guten Argumenten und guter pädagogischer Praxis zu überzeugen. Das Bundesnetzwerk unterstützt die „Pulse of Europe“-Bewegung.

Mit Blick auf die Zukunft ist festzustellen: Ohne die Einbeziehung von Bildung und Erziehung wird es nicht gelingen, für Europa eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Es bedarf vielmehr des fortgesetzten Versuchs, die europäische Dimension des Lernens im Rahmen eines umfassenden Ansatzes interkulturellen Lernens in unseren Schulen zu verankern. Dazu müssen Europaschulen sich stärker noch als bisher dem Thema Integration widmen. Jede einzelne von ihnen sollte in ihrem Umfeld eine Schlüsselrolle spielen, um als Entwicklungswerkstatt Modelle zu entwickeln, erproben und sie in einen schuleigenen Integrations-Plan fassen. Natürlich werden auch weiterhin Europaschülerinnen und –schüler fröhlich auf Fahrt gehen, um andernorts jungen Europäerinnen und Europäern zu begegnen. Aber die Anerkennung des Fremden beginnt zu Hause mit der Integration in unserer eigenen Schule.

Unsere Hauptaufgabe wird erst in der Krise vollends offenbar. Integration ist nicht nur ein Problem sozial benachteiligter Einwanderer, sondern eine gesellschaftspolitische Forderung an alle in pädagogischen Einrichtungen Tätigen, sollen sie doch gemeinsam zur gesellschaftlichen Kohäsion beitragen, ohne die es nicht geht. Dieses Ziel ist mit der Aufgabe der Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen nur noch deutlicher geworden.

Mit der Vermittlung guter Schulabschlüsse, bei der Berufsorientierung und in der Vermittlung von Bürgerschaftskultur im Gemeinwesen haben Europaschulen Aufgaben übernommen, für deren Lösung sie besonders geeignet sind, haben sie doch Wolfgang Klafkis Bildungsbegriff vom „universalen Aufgaben- und Verantwortungsbewusstsein als Beitrag zur europäischen Kulturentwicklung“ zur Grundlage ihrer Arbeit erklärt.

Dafür will das Bundesnetzwerk Europaschule auch weiterhin Rat und Unterstützung vermitteln und bietet allen daran Interessierten seine guten Dienste an.

Wolfgang Geisler / Carola Lakotta-Just, November 2017